Zunehmend der Normalfall in den Haushalten Betagter: Eine Betreuerin aus Rumänien hilft beim An- und Ausziehen. (Bild: Goran Basic / NZZ)

Zunehmend der Normalfall in den Haushalten Betagter: Eine Betreuerin aus Rumänien hilft beim An- und Ausziehen. (Bild: Goran Basic / NZZ)

Das graue Geschäft mit den Alten

Immer mehr gebrechliche Betagte lassen sich zu Hause von Ausländerinnen betreuen. Es ist ein Milliardenmarkt, der satte Gewinne verspricht, aber kaum reguliert und kontrolliert ist. In vielen Kantonen lassen Massnahmen auf sich warten.

Jörg Krummenacher
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«Das ist oft krass, wenn man rund um die Uhr verantwortlich ist», sagt Martina M.* Sie lebt in Osteuropa und kommt immer wieder für wenige Wochen in die Schweiz, um Betagte zu betreuen, die in ihren eigenen vier Wänden leben. Sie macht ihre Arbeit gern, Tag und Nacht, aber manchmal kommt Martina M., abgesehen vom Einkaufen, tagelang nicht aus der Wohnung. «Man fühlt sich dann wie eingesperrt», erzählt sie. In zwei Wochen habe sie nur gerade fünf Stunden frei. Das zehrt an den Kräften, vor allem, wenn die betreute Person nachts aufsteht und etwa beim Stuhlgang unterstützt werden muss. Und auch, wenn von den Angehörigen wenig bis keine Unterstützung kommt. Das sei immer mal wieder der Fall: «Es gibt Familien, da kümmert sich niemand um die Eltern.»

Mehrere zehntausend Migrantinnen

Martina M. ist Pendelmigrantin. So heisst im Behördenjargon jene zunehmende Zahl von Betreuerinnen, die sich um Schweizer Seniorinnen und Senioren kümmern, die stark hilfsbedürftig sind und oft unter Demenz leiden, aber weiterhin zu Hause leben möchten und nicht dauerhaft von ihren Angehörigen gepflegt werden können. Die Betreuerinnen kommen aus Ostdeutschland, Österreich, Polen, der Slowakei, aus Ungarn und Rumänien. Die meisten sind älter als 45 Jahre.

Serie zur Betagtenpflege

In einer 3-teiligen Serie werfen wir einen Blick auf die Betagtenpflege abseits von Heimen und Spitälern. Der zweite Teil wird sich mit der Hilflosenentschädigung beschäftigen, der dritte mit der ungeklärten Situation von Sterbehospizen.

Wie viele für einige Wochen in die Schweiz und wieder zurück in ihr Heimatland pendeln, weiss niemand. «Hierüber können wir keine Auskunft geben», teilt das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) mit. Der Branchenverband der Personaldienstleister (Swissstaffing) bedauert, dass es «leider keine verlässlichen Zahlen» gebe. Und die Gewerkschaft Unia spricht von einem «undurchsichtigen Markt». Ein vom Bundesrat in Auftrag gegebener Bericht schätzte 2016 ihre Zahl grob auf 5000 bis 30 000 Personen. «Wir gehen davon aus, dass es heute mehr sind: eher gegen 50 000», sagt Unia-Sekretärin Yolande Peisl-Gaillet.

Das Geschäft mit den Pendelmigrantinnen spielt sich in einer Grauzone ab, die Arbeitsbedingungen sind höchst unterschiedlich, die Vorgaben differieren von Kanton zu Kanton und werden nicht kontrolliert, der Schwarzmarkt blüht. Für Peisl-Gaillet ist klar: «Der mangelnde Schutz der Migrantinnen öffnet Missbrauch Tür und Tor.» Auch der Bund bemängelte in einem Bericht die «teilweise prekäre Arbeits- und Wohnsituation der betroffenen Arbeitnehmerinnen».

Ein Milliardenmarkt

All dies findet in einem rasant wachsenden Markt statt. Insgesamt, so schätzt die Universität St. Gallen in einer Studie, werden sich die Kosten für die Langzeitpflege Betagter von heute 15,6 Milliarden auf 31,3 Milliarden Franken im Jahr 2050 verdoppeln. Das ergibt sich allein schon aus der demografischen Entwicklung: Die Zahl der pflegebedürftigen Betagten steigt und steigt. Die Belastung ist hoch. Auf privater Basis gilt das insbesondere dann, wenn die Betreuung Gebrechlicher zu Hause erfolgt und an Pendelmigrantinnen und weitere Dienste wie die Spitex delegiert wird. Während Einsätze der Spitex zu grossen Teilen von den Krankenkassen übernommen werden, müssen die Kosten für die 24-Stunden-Betreuerinnen weitgehend aus dem eigenen Portemonnaie berappt werden. Hochgerechnet auf die ganze Schweiz, ergibt das eine Summe in Milliardenhöhe.

Das Seco schätzt die Zahl bewilligter Firmen, die in diesem Bereich in der Schweiz tätig sind, auf etwa hundert. Hinzu kommen der Schwarzmarkt und ein Graumarkt, in dem Haushalte über informelle Netzwerke Pendelmigrantinnen direkt rekrutieren – ohne «Umweg» über eine Verleihfirma. Die zu grossen Teilen privat finanzierte Betreuung zu Hause entlastet das Gesundheitswesen: Die Alternative wäre der Aufenthalt in einem Pflegeheim, was aber die Kosten für Krankenkassen und die öffentliche Hand massiv in die Höhe treiben würde, abgesehen davon, dass es an Pflegebetten wie an Pflegenden fehlte.

Branchenführer ist die international tätige Firma Home Instead. Sie beschäftigt in der Schweiz derzeit rund 2000 Mitarbeitende, unter ihnen 1900 Frauen, mit einem Durchschnittsalter von 56 Jahren. 1800 Mitarbeitende wohnen in der Schweiz; sie werden in der Tagesbetreuung eingesetzt. 200 sind Pendelmigrantinnen, die aus dem Ausland anreisen. Sie sind ausschliesslich für die 24-Stunden-Betreuung zuständig.

Politisch scheint die Betreuungsbranche bis jetzt ein Tabuthema zu sein. «Man will nicht darüber reden», sagt Gewerkschafterin Peisl-Gaillet: «Die Care-Arbeit wird als Wirtschaftszweig zu wenig anerkannt und geschützt.» Sie hoffe, dass sich dies mit dem neuen Parlament verbessern werde.

Lange Umsetzung des Modellvertrags

Der Bund bemüht sich schon seit einigen Jahren, etwas Licht ins Dunkel zu bringen. Aufgrund eines Entscheids des Bundesgerichts von 2014 unterstehen heute jene Betreuerinnen, die durch bewilligte Verleihfirmen zum Einsatz kommen, dem Gesamtarbeitsvertrag Personalverleih. Für die anderen gilt der Normalarbeitsvertrag (NAV) Hauswirtschaft des Bundes. Ergänzend hat das Seco im vergangenen Jahr einen Modellvertrag für die Regelung der 24-Stunden-Betreuung vorgelegt. Er sieht einen Mindestlohn und Regeln zur Bezahlung für die Präsenzzeiten vor, fixiert den Anspruch auf Pausen, eine wöchentliche Freizeit von eineinhalb Tagen oder den Zugang zum Internet, der für den Kontakt der Pendelmigrantinnen mit ihren Familien wichtig ist. Allerdings ist der Modellvertrag nicht verbindlich, sondern dient lediglich als Vorlage für die Kantone. Denn diese sind verantwortlich für die Umsetzung: Sie sind gehalten, die Regeln in kantonale Normalarbeitsverträge zu überführen.

Dabei harzt es. Diesen Sommer haben die Kantone zuhanden des Bundesrats einen ersten Bericht abliefern müssen, dessen Resultate seit kurzem auf der Website des Seco publiziert sind. Erst die vier Kantone Genf, Appenzell Innerrhoden, Tessin und Wallis haben Regelungen für die 24-Stunden-Betreuung erlassen, im Kanton Aargau ist die Umsetzung noch für dieses Jahr geplant, in weiteren elf Kantonen auf Beginn des kommenden Jahres. In zehn Kantonen lassen Vorgaben auf sich warten: Entweder ist – wie im Kanton Zürich – noch offen, wann die Umsetzung erfolgt. Oder es ist noch gar nichts passiert, was auf die Kantone Thurgau, Glarus, Obwalden und Waadt zutrifft.

Dennoch hat sich in den Augen des Seco die Situation für die Pendelmigrantinnen in den letzten Jahren etwas verbessert. Auch Paul Fritz, der CEO der Vermittlungsfirma Home Instead, stellt positive Veränderungen fest, da sich die meisten Anbieter dank dem GAV Personalverleih vermehrt an die gesetzlichen Regelungen hielten. Laut Fritz gibt es aber weiterhin eine Reihe schwarzer Schafe: «Ein grosses Problem sind vor allem ausländische Anbieter, die unter dem Radar der Behörden bleiben und zum Beispiel im Internet für sich werben.»

Der Verband Swissstaffing kritisiert den Wildwuchs der Regelungen in den Kantonen. Besser wäre es, sagt Swissstaffing-Mediensprecherin Blandina Werren, «wenn die notwendigen Anpassungen im Arbeitsgesetz oder in einer Verordnung geregelt worden wären. Das würde eine gesamtschweizerisch einheitliche Regelung sicherstellen.» Auch die Gewerkschaft Unia verlangt den Schutz der Arbeitnehmerinnen im Rahmen des Arbeitsgesetzes. Yolande Peisl-Gaillet zeigt sich ernüchtert ob der fehlenden oder stark abgeschwächten Umsetzung des Modellvertrags in den Kantonen: «Das geht zulasten der Migrantinnen. Letztlich lagert man unbezahlte Care-Arbeit einfach an diese aus.»

Hohe Gewinnspanne

Selbst wenn arbeitsvertragliche Regelungen eingeführt worden sind, bleibt das Problem ungelöst, wie ihre Umsetzung vor Ort kontrolliert werden soll. Das gilt insbesondere für den Schwarzmarkt und für jene 24-Stunden-Betreuerinnen, die direkt von den Haushalten angestellt werden. So oder so sind die Arbeitsbedingungen wenig berauschend – auch bei seriösen Arbeitsvermittlern wie dem Branchenführer Home Instead, die sich an GAV und NAV halten. Der Modellvertrag des Bundes sieht einen obligatorischen Mindestlohn von 19 Franken 80 pro Stunde vor, zudem wenigstens 5 Franken für die weiteren Präsenzzeiten.

Was das in der Praxis bedeutet, lässt sich an einem Beispiel skizzieren: Der Lohn ergibt sich aus einer Arbeitszeit von knapp sieben Stunden und einer Rufbereitschaft von weiteren neun Stunden. Er beträgt rund 200 Franken pro Tag – inklusive der Anteile für den 13. Monatslohn, das Feriengeld und die Sonntagsentschädigung. Davon abgezogen werden gemäss Modell-NAV 33 Franken für Kost und Logis, womit einer Betreuerin 167 Franken bleiben. Der Kunde bezahlt bei der Verleihfirma Home Instead allerdings deutlich mehr: nämlich einen Tagesansatz von 450 Franken. Der Lohn macht somit nur rund 37 Prozent des Tarifs aus. Die weiteren 63 Prozent werden für Lohnnebenleistungen, Reisekosten, Administration, Begleitung, Rekrutierung und Sachkosten erhoben – und für den Gewinn.

Der Bericht, den der Bundesrat in Auftrag gegeben hat, geht von teilweise hohen Profiten in der Branche aus. Pro Monat dürften die Pendelmigrantinnen zwischen 1000 und im allerbesten Fall 6500 Franken verdienen, der übliche Verdienst dürfte etwa 2500 Franken betragen. Die Preise, die die Kunden an die Verleihfirmen zahlen, variieren aber zwischen 2500 und 15 000 Franken pro Monat.

Zu reden gibt unter Pendelmigrantinnen, dass ihnen die Kosten für Kost und Logis vom Lohn abgezogen, diese aber nicht von der Verleihfirma übernommen werden. Es sind nämlich die Kunden, die verpflichtet sind, ein Schlafzimmer wie auch angemessene Verpflegung gratis zur Verfügung zu stellen – eine Regelung, welche die Rendite der Verleihfirmen erhöht.

Angst um den Job

Eine Lobby, um sich für ihre Anliegen einzusetzen, haben die Pendelmigrantinnen kaum. Jede Mitarbeiterin ist weitgehend auf sich allein gestellt, Kontakt untereinander gibt es selten. Einzelne schliessen sich in einer Whatsapp-Gruppe zusammen, wenige lassen sich gewerkschaftlich vertreten. «Die meisten haben Angst, sich zu wehren», sagt Martina M., «denn sie sind auf den Job angewiesen.» Auch Martina M. wird weiterhin in die Schweiz kommen, um Betagte zu betreuen. Denn trotz allen Mühen, trotz dem relativ tiefen Lohn: Hier ist es besser als zu Hause, hier verdient sie mehr.

* Name geändert.